Inspector Barnaby: Grossbritanniens erfolgreichster TV-Export (2024)

Bizarre Morde im englischen Landschaftsidyll begeistern seit 1997 die Zuschauer. Was macht die britische Krimiserie mit dem Originaltitel «Midsomer Murders» so unwiderstehlich?

Marion Löhndorf

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In Midsomer geschehen die brutalsten Morde, und die halbe Welt ist entzückt. Seit 24 Jahren geht das schon so in der Fernsehserie, die in deutschsprachigen Ländern unter dem Titel «Inspector Barnaby» bekannt ist. In Grossbritannien heisst diese Krimireihe des Senders ITV «Midsomer Murders» und gilt offiziell als die meistverkaufte Detektivserie des Landes: Sie wird in 200 Regionen der Welt exportiert und ist in Deutschland und Dänemark ebenso beliebt wie in Amerika.

Midsomer heisst die fiktive Grafschaft, in der das Grauen praktisch zu Hause ist. Es ist eine Gegend, in der dutzendfach Schädel eingeschlagen, Leute von einer Guillotine geköpft oder bei der Benutzung eines Fitnessfahrrads von einem Stromschlag getötet werden. Die Morde in der idyllischen Umgebung der Bilderbuchdörfer sind nicht nur zahlreich, sondern auch ausgesprochen bizarr. Also schon nicht mehr ernst zu nehmen. Dies wiederum trägt sehr zur Anziehungskraft der Serie bei, die grossteils in Oxfordshire gedreht wird. Die Marktgemeinde Wallingford wird dabei zum Ort namens Causton, der die Serie prägt.

Schandtaten im Sonnenlicht

Das Böse lauert hinter gehäkelten Gardinen, in Ställen, Glockentürmen, zwischen Kirchenbänken, und die ganze schwelgerische Pracht der englischen Landschaft spielt eine Hauptrolle bei «Barnaby»: die blumenumrankten Cottages, die Country-Pubs mit den Holzbalkendecken, die Elite-Colleges, die Herrenhäuser mit ihren Antiquitäten und Rasenflächen, die aussehen wie mit der Nagelschere manikürt. Alles ist nur vom Schönsten – England, wie es sich selbst sieht und sich seit Jahrhunderten auch der Aussenwelt vermittelt. Oft herrscht Sommerwetter, und die Schandtaten werden von goldenem Sonnenlicht beschienen, was ihnen eine zusätzliche, ferienhafte Realitätsferne verleiht.

Viele Schauspielstars hatten schon ihre Gastauftritte, mit Vorliebe gaben sie Exzentriker, die in dieser Serie zumindest in den Nebenrollen besonders gern gesehen werden. Zu den bekanntesten Namen gehörten Olivia Colman, Joanna Lumley, Hugh Bonneville und Orlando Bloom, der in der Episode «Judgement Day» aus dem Jahr 2000 von einer Mistgabel perforiert wurde, bevor ihn die «Lord of the Rings»-Kinoreihe zum Star machte.

Der Detective Chief Inspector, seit zehn Jahren von Neil Dudgeon gespielt, ist ein unkomplizierter Typ: DCI John Barnaby besitzt, anders als viele Pendants in Fernsehkrimis, keine traumatisierte Seele. Er muss keine düsteren Ecken seines Charakters verbergen. Und die Familie des Inspektors ist so, wie man sich die perfekte Familie vorstellt, die es in der Wirklichkeit nirgendwo gibt. Er hat eine reizende Ehefrau, ein süsses Kind, ein schönes Haus – und 29 Folgen lang auch einen fröhlichen Hund.

Neil Dudgeon ist ein bisschen – wie soll man es sagen? – glatt. Jedenfalls nicht gerade ausdrucksstark. Ganz im Gegensatz zu seinem Vorgänger John Nettles, der in der Rolle des DCI Tom Barnaby von 1997 an vierzehn Jahre lang die Ereignisse in Midsomer mit seiner intelligenten Ironie eingefärbt hatte: Sein unerschütterlich gutgelaunter Inspector signalisierte den Zuschauern, dass dies alles nicht recht ernst zu nehmen sei, weder das Leben mit seinen Lächerlichkeiten noch der in scheusslichen Varianten eintretende Tod. Wobei der Fairness halber gesagt werden muss, dass die Fangemeinde bis heute darüber streitet, ob sein Nachfolger Neil Dudgeon es nun wirklich so viel schlechter mache.

Doch ganz gleich, ob Tom oder sein Cousin John Barnaby im Dienst ist: Beide vermitteln das wohlige Feierabendgefühl, dass die Welt wieder in Ordnung sein wird, nachdem der Inspector seine Arbeit getan hat. Jeder Fall wird garantiert beim ersten Anlauf aufgeklärt. Denn jede Folge ist ein Film für sich. So ganz ohne Cliffhanger, dafür aber mit einer Lösung entlassen zu werden – auch das ist beruhigend. Ebenso wie das etwas altertümliche Muster der Episoden: Ein Mord ist absolutes Minimum, meist aber häufen sich die Tötungsdelikte bedenklich; die Hauptverdächtigen sind unschuldig, während die Mörder überzeugende Unschuldsmienen aufsetzen. Humor, gesunder Menschenverstand und das Gute siegen immer.

Und übrigens, man ist strikt demokratisch. Und wenn ein reicher, schnöseliger Gutsbesitzer vorkommt, kann ihn das geübte Barnaby-Publikum gleich schon einmal als Tatverdächtigen in Betracht ziehen. Gesellschaftliche Klassen werden zur Kenntnis genommen und milde karikiert, auch das ist very British.

Jämmerliche Fehden

Die auf einer Romanfolge von Caroline Graham basierende Serie vermeidet eine allzu genaue Betrachtung unserer Zeit und sieht sich stattdessen in der Tradition von Agatha Christie. Was die Reihe so beliebt macht, sind nicht nur ihre eskapistische Tendenz und die touristisch anmutende Besichtigung des englischen Landlebens. Die Morde beginnen meistens mit Kleinkriegen, die auf Eifersucht basieren, mit zänkischen Arrangements von Dorffesten, mit Intrigen in Laienspielgruppen, Universitäten, Arztpraxen – also jämmerlichen Fehden, über die sich die Erzählung lustig macht. Vieles davon kommt wohl nicht nur dem englischen Publikum zumindest entfernt bekannt vor.

Inspector Barnaby: Grossbritanniens erfolgreichster TV-Export (2)

Weil sie vorher die multikulturelle Wirklichkeit Grossbritanniens komplett ausgeblendet hatte, sah sich Barnabys Welt allerdings vor zehn Jahren erbitterter Kritik ausgesetzt: Brian True-May, der Produzent der Serie, hatte 2011 in einem Interview mit der «Radio Times» mitgeteilt, «Midsomer Murders» sei «die letzte Bastion der Englishness», und er wolle es dabei belassen. Es gebe keine ethnischen Minderheiten darin, «weil es dann kein englisches Dorf mehr wäre». Das war selbst für «Midsomer»-Massstäbe ein Zuviel an Realitätsverlust. Er führte zu True-Mays Entlassung, der von ihm vorgegebene Kurs wurde in späteren Folgen korrigiert. Barnaby selbst hat noch jede Krise überlebt. Soeben ist die 22.Staffel der allem Anschein nach unsterblichen Serie im britischen Fernsehen gestartet.

Staffel6 von «Inspector Barnaby» läuft zurzeit montags auf ZDF Neo. Weitere Staffeln sind auf DVD verfügbar.

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